
„Altdeutsch“? Oder was ist das für eine Schrift?
Vielleicht kommen Ihnen diese Situationen bekannt vor. Sie werfen einen Blick auf ein altes Schriftstück, etwa auf einen alten Brief aus dem Krieg, und Sie fragen sich: „Was ist das für eine Schrift?“ Oder Sie blättern interessiert in einem alten Poesiealbum. Sie entziffern einzelne Buchstaben, Worte oder gar Sätze. Die Schrift ist Ihnen nicht wirklich vertraut. Aber Sie wissen: Das ist in „Altdeutsch“ geschrieben!
Falls Ihr Dokument vor 1941 verfasst wurde, ist davon auszugehen, dass es eine „altdeutsche“ Handschrift ist, also eine historische, deutsche Handschrift, die wir heute nicht mehr gebrauchen. Zu den bekanntesten alten deutschen Schriften zählen Kurrent und Sütterlin.
Ein klitzekleiner Diskurs zur deutschen Schriftgeschichte
Kurrent wurde im 16. Jahrhundert entwickelt und bis ins 20. Jahrhundert hinein als Schreibschrift genutzt. Um die Kurrentschrift zu vereinfachen, entwickelte Ludwig Sütterlin (1865-1917), Grafiker und Schriftreformer, daraus eine neue, schnörkellosere Schrift, die nach ihm benannt wurde. Sie fand sowohl als Handschrift als auch als Druckschrift Verwendung.
Schließlich führten die Nationalsozialisten 1941 per Erlass die lateinische Schrift ein, die sogenannte „Normal-Schrift“, zur Abgrenzung an die „altdeutschen“ Schriften, die möglicherweise zu sehr mit der Weimarer Republik und der Vorkriegszeit hätten verbunden werden können – vor allem aber, damit deutsche Schriftstücke von einer internationalen Leserschaft flüssig gelesen und leicht verstanden werden konnten.
Andere Zeiten – andere Lieblingsschriften
Indem ich diese Zeilen schreibe, fällt mir meine Mutter ein, die mir erzählte, dass sie Texte lieber in Sütterlin geschrieben und auch Bücher lieber in Sütterlin gelesen habe als in Latein. Sütterlin sei für sie weicher, wärmer – vertrauter. Es war die erste Schrift, die sie gelernt und mit der sie sich schriftlich ausgedrückt hat. Eine prägende Erfahrung.
Und dann denke ich an Wilhelm, einen Junglehrer, dessen Briefe an seinen Freund Karl ich übersetzt habe. Im Brief vom 30.09.1924 schreibt er: „Sütterlinschrift wird Pflicht. Ich mache die ersten Anfänge, verfalle aber ständig in das alte Geleise.“ Dieser Brief ist tatsächlich eine Zäsur. Hatte er die vorausgegangenen Briefe in Kurrent verfasst, schrieb er ab diesem Zeitpunkt alle weiteren Briefe in Sütterlin. Auch wenn ihm der Wechsel der Handschriften erwartungsgemäß nicht ganz leichtgefallen sein mag, spricht sein Schriftbild eine andere Sprache.
Und schließlich gehe ich in meine eigene Schulzeit zurück. Mit der lateinischen Schrift aufgewachsen, stand in den 1970er Jahren das Fach „Schönschrift“ auf meinem Stundenplan. Ich war begeistert, nicht nur die mir bekannte lateinische Schrift, sondern auch eine „neue“ alte Schrift Zeile für Zeile sauber in mein „Schönschreibheft“ zu schreiben.
Ich gestehe: Altdeutsch habe ich seither nicht mehr geschrieben. Die „lateinische“, unsere „heutige“ Schrift, ist „meine“ Schrift. Sie geht mir leicht von der Hand und ich schreibe sie täglich viel und gerne.
Vermutlich geht es mir ähnlich wie meiner Mutter oder dem Junglehrer Wilhelm: Die Schrift, mit der wir Schreiben lernen, ist uns die vertrauteste und vielleicht auch die liebste.
Von der freudigen Spannung, eine alte Schrift zu lesen
Allerdings, und hier unterscheiden wir uns möglicherweise, lieber Leser, liebe Leserin, begeistere ich mich nach wie vor für alte, deutsche Schriften. Es ist mir immer wieder ein Erlebnis, Aufzeichnungen zu lesen, die in einer dieser alten Schriften verfasst sind und die ich nicht sofort oder auf den ersten Blick „entziffern“ kann. Genau darin liegt die Faszination, mir den Inhalt einer alten Aufzeichnung zu erschließen. Ähnlich einem Geschenk, das ich bedacht, aufmerksam und voller Spannung auspacke.
Ich freue mich über jeden neuen „alten“ Text, den ich für Sie in unsere heutige Schrift übertragen darf. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Die Dokumente sollten nicht älter als 120, 130 Jahre sein. Ich freue mich schon heute auf unsere Zusammenarbeit.
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