Warum es mir Spaß macht, aus dem Sütterlin zu „übersetzen“

Tatsächlich. Sie haben richtig gelesen! Mir macht es Spaß, alte private Dokumente aus dem Sütterlin zu „übersetzen“. Gründe dafür gibt es viele.

In diesem Artikel greife ich einen Grund auf und erkläre einführend, warum Worte, die mir nicht bekannt sind, dabei eine Rolle spielen. Zur Veranschaulichung erzähle ich schließlich eine kleine, persönliche Geschichte. Sie handelt von „Eiszapfen im Sommer“ und ich habe sie selbst beim Übertragen aus dem Sütterlin erlebt.

Mit diesem Beispiel aus meinem Alltag als Lebensarchivarin möchte ich Sie ermuntern und inspirieren, unbekannten Worten, die Ihnen beim Übersetzen aus dem Sütterlin begegnen, gelassen, neugierig, bestenfalls mit freudigem Entdeckergeist entgegenzutreten.

Falls Sie eine deutsche Schrift lesen oder schreiben lernen wollen, empfehle ich Ihnen zu guter Letzt ein entsprechendes Lehrbuch.

Habe ich richtig gelesen?

„Eiszapfen im Sommer? Das kann nicht sein! Ich muss mich verlesen haben!“

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich vor einigen Jahren über ein Wort stolperte, das mein Großvater im Juli 1947 geschrieben hatte. Damals „übersetzte“ ich seine alten Briefe für ein „Lebensbuch“-Projekt aus dem Sütterlin.

Da ich mir unsicher war, entzifferte ich das Wort erneut mehrfach hintereinander, Buchstabe für Buchstabe. Und ich kam zu dem Schluss, dass ich mit meiner „Übersetzung“ richtig lag. Eiszapfen musste es also auch im Sommer geben. Folglich recherchierte ich und staunte …

Richtig gelesen – und auf Entdeckungsreise gehen

Auch heute begegnen mir als Lebensarchivarin regelmäßig Worte, die mir gänzlich fremd sind. Oder es sind Worte, deren weitere Bedeutung ich nicht kenne, wie mein „Eiszapfen-Beispiel“ zeigt. Diese Wort-Begegnungen erlebe ich insbesondere dann, wenn ich alte private Dokumente archiviere oder übersetze, die in einer der deutschen Handschriften, etwa in Kurrent oder in Sütterlin, verfasst sind.

Anders als vor einigen Jahren überwiegt mittlerweile jedoch nicht der Zweifel an der Richtigkeit meiner Übersetzung. Vielmehr genieße ich die stille Vorfreude auf die Aha-Momente, wenn ich die Bedeutung dieser Worte entdecke und sie dadurch im Textkontext Sinn für mich ergeben!

In diesen besonderen Momenten erlebe ich einmal mehr, wie viel Spaß mir das Übersetzen aus dem Kurrent und dem Sütterlin bereitet. Obwohl die Beschäftigung mit den mir unbekannten Worten lediglich einen sehr kleinen Teil meiner Arbeit als Lebensarchivarin ausmacht, möchte ich sie dennoch nicht missen.

Schließlich trägt die Wort-Recherche grundlegend zum Textverständnis bei und ist daher für mich unverzichtbar. Ganz nebenbei erhalte ich zusätzliche Einblicke in zumeist vergangene Sprach- und Lebenswelten, die noch unbekannt für mich sind.

Es ist aber nicht nur das neugewonnene Wissen, das mich begeistert, sondern es sind die interessanten, spannenden, kuriosen oder lustigen Geschichten, die sich darin verbergen. Kleine und große Geschichten, die es wert sind, entdeckt und erzählt zu werden.

Alte Lieblingsworte neu entdeckt

An dieser Stelle teile ich gerne die drei Lieblingsworte mit Ihnen, die derzeit weit oben auf meiner „neuentdeckte-unbekannte-Worte-Liste“stehen:

  • Druckpapierhügeltheorie
  • Königlicher Hof-Kuchen-Commissarius
  • Eiszapfen

Wie Sie richtig vermuten, ist das Wort „Eiszapfen“ mein Favorit, da es über alle semantischen Bedeutungen hinaus eine persönliche Bedeutung für mich hat.

Die ganze „Eiszapfen-Geschichte“

Wie eingangs erwähnt, übersetzte ich vor geraumer Zeit eine Anzahl alter Briefe meines Großvaters Berthold, die er zwischen 1945 und 1948 an seine Mutter Friederike geschrieben hatte. Und zwar in Sütterlin.

Mein Großvater

Berthold, Mitte 50, lebte damals mit seiner Frau Hedwig und seinen beiden Töchtern Inge und Brigitte in ärmlichen Verhältnissen auf einem Dachboden in Schleswig-Holstein. Als Flüchtlinge aus Pommern hatten sie zum Ende des Zweiten Weltkrieges alles verloren, was ihnen einen Neuanfang nicht leicht machte. Überdies war es Berthold nicht möglich, seine Familie zu ernähren, da er ohne Arbeit und zudem schwer krank war.

Ein unverhofftes Geschenk zur Silberhochzeit

Umso mehr war ich berührt, als ich die folgenden Zeilen in Bertholds Brief vom 1. Juli 1947 las:

„Unsere Silberhochzeit haben wir am 26.6. gefeiert mit nichts. Aber der liebe Gott sieht doch. Gegen 11 Uhr, ich hatte lange gelegen, kam ein Mädel, eine Bekannte von Inge, und brachte uns 25 Pfd. Kartoffeln, 2 Pfd. Spargel, 1 Pfd. Speck, 1 Büchse mit eingemachten Birnen und ein Bündel Eiszapfen u. Radieschen. Dies alles hatte uns ein Herr geschickt, den wir gar nicht kennen. Nun konnten wir uns alle mal sattessen.“

Was für ein unverhofftes, wundervolles Geschenk meine Großeltern zu ihrem 25. Hochzeitstag erhalten hatten. Wie Berthold war auch ich Jahrzehnte später darüber freudig überrascht.

Eiszapfen im Sommer? Das kann nicht sein. Oder doch?

Doch dann wurde ich stutzig, da ich mir nicht erklären konnte, was ein Bündel „Eiszapfen“ zwischen all den anderen Leckereien suchte. Mein Gedankenkarussell setzte ein und drehte sich gewaltig. Sollte das gefrorene Eis, d. h. die „Eiszapfen“, Gemüse und Obst in der sommerlichen Wärme kühlen? Damit es möglichst lange frisch blieb? Diese und weitere Vermutungen ergaben jedoch keinen Sinn.

Stattdessen zweifelte ich an meiner Übersetzung. Ich las also das Wort vor und zurück. Schließlich nahm ich ein Sütterlin-Alphabet zur Hand und überprüfte nochmals jeden einzelnen Buchstaben, um festzustellen, dass ich richtig übersetzt hatte. Berthold hatte tatsächlich „Eiszapfen“ geschrieben.

Des Rätsels Lösung

Rückblickend sage ich, dass ich das Rätsel schneller hätte lösen können. Was lag näher, als dass Berthold ein Gemüse meinte, als er von „Eiszapfen“ sprach? Inzwischen hatte ich nachgeforscht und erfahren, dass es sich bei den „Eiszapfen“ um eine alte, weiße, längliche, spitz zulaufende Radieschensorte handelt. Nun ergaben „Eiszapfen“ im Sommer Sinn.

Über die „Eiszapfengeschichte“ hinaus miteinander verbunden

Heute freue ich mich sogar, dass ich über die „Eiszapfen“ in Bertholds Brief gestolpert bin. Denn angeregt dadurch säe ich seit drei Jahren regelmäßig im Frühjahr Eiszapfen in unserem Gemeinschaftsgarten aus. Wenn ich die kleinen, weißen, kegelförmigen Radieschen ein paar Wochen später aus dem Boden ziehe, halte ich einen Moment inne, schmunzle und denke an Berthold.

Übrigens ist mein Großvater einige Monate nach seiner Silberhochzeit verstorben. Ich habe ihn daher nicht kennengelernt. Dennoch fühle ich mich durch seine Briefe, aber auch durch unsere „Eiszapfen-Geschichte“, mit ihm verbunden. Genauso wie in diesem Moment, in dem ich diesen Artikel schreibe.

Und nun Sie, liebe Leserin, lieber Leser:

Falls auch Sie erfahren möchten, wie viel Freude es macht, alte private Dokumente aus dem Sütterlin zu übersetzen, ermutige ich Sie, damit anzufangen. Holen Sie dafür die ungelesenen alten Tagebücher, Briefe oder Poesiealben Ihrer Vorfahren hervor.

Vielleicht nehmen Sie sich zu Beginn eines der entsprechenden Alphabete zur Hand, die Sie kostenfrei aus dem Netz herunterladen können. Ebenso empfehle ich zum Einstieg folgendes Lehrbuch:

  • Harald Süß: Deutsche Schreibschrift, München 2002

Und dann üben Sie! Probieren Sie sich aus! Lernen Sie eine alte deutsche Schrift neu kennen. Ich verspreche Ihnen, dass es ein kleines, manchmal auch großes Abenteuer ist, alte Handschriften im Original lesen zu können. Insbesondere, wenn Sie einen persönlichen Bezug dazu haben.

Als Lebensarchivarin an Ihrer Seite

Selbstverständlich sollten Sie ein wenig Zeit zum Üben einplanen. Dauert Ihnen das zu lange oder lässt Ihr Alltag momentan keinen Raum dazu frei, unterstütze ich Sie gerne. Auf Wunsch lege ich auch ein Verzeichnis an, falls in Ihren Schriftstücken alte unbekannte Worte auftauchen, die darauf warten, neu entdeckt zu werden. Ich freue mich, von Ihnen zu hören.

Ihre Kirsten Ulrike Maaß

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