
Ein besonderes Geschenk zum neuen Jahr
Heute erzähle ich von der Bedeutung privater Dokumentenarchivierung. Ich erzähle davon, dass ein vermeintlich wertloses Stück Papier sich in eine wertvolle Archivalie wandelt, wenn es unser Interesse weckt und uns eine Geschichte erzählt. Geschichten von Menschen, die vor uns da waren. Geschichten, die uns bewegen, berühren, erstaunen, nachdenklich machen. Die vielleicht Unerwartetes oder Neues ans Tageslicht bringen. Geschichten, die Erinnerungen hervorrufen, die es wert sind, festgehalten und bewahrt zu werden. Heute erzähle ich von einem alten Heft. Ich erzähle ein wenig aus der Lebensgeschichte meiner Mutter und von einem individuellen Geschenk voller liebevoller Erinnerungen.
Begleiter durch mein Jahr 2025
Zum Jahresanfang habe ich mir ein ganz persönliches Geschenk gemacht: einen Kalender mit ausgewählten „Impressionen aus Inges Zeichenheft“. Inge ist meine Mutter. Die Zeichnungen fertigte sie 1946 an. Damals war sie 16 Jahre alt. Ein Flüchtlingsmädchen aus Pommern. In gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, lebte sie mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester in zwei kargen Kammern auf einem Dachboden in Schleswig-Holstein. Die Zeiten waren nicht leicht. Die Zukunft ungewiss. Umso schöner ist für mich die Gewissheit, dass die 16-jährige Inge, das junge Mädchen aus Pommern, das eine traumatische Flucht erlebt und so vieles verloren hatte, das Zeichnen liebte. Mich beruhigt die Vorstellung, dass sie in den kreativen Prozess des Zeichnens eintauchte und dadurch hoffentlich ein Stück Heimat in sich selber fand.
Im Verborgenen
Wie gerne meine Mutter zeichnete, wurde mir erst deutlich bewusst, als sie mit über 80 Jahren Zeichenunterricht nahm. Unter Anleitung ihrer Lehrerin entwickelte sie sich Jahr für Jahr weiter. Viele Jahrzehnte hatte sie ihr zeichnerisches Talent nicht nur vor uns, ihren Kindern, sondern auch vor ihrem Mann, unserem Vater, vor allem aber vor sich selber verborgen. Wir freuten uns, dass sie in ihren Achtzigern und sogar in ihren Neunzigern ihre Begabung lebte.
Mit ihrem Tod hinterließ uns meine Mutter nicht nur ihre „Spätwerke“ als kostbare Erinnerung, sondern auch jenes Zeichenheft aus ihrer Jugend. Ich entdeckte es erst, als ich ihren umfangreichen und vielfältigen schriftlichen Nachlass sorgfältig archivierte.
Ein altes Heft
Auf den ersten Blick ist es ein beinahe unscheinbares, dünnes DIN-A4-Heft mit rot ausgeblichenem Einband. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich das Heft in die Hand nahm, es vorsichtig aufschlug und Seite für Seite voller Staunen umblätterte. Auf den karierten Heftseiten und den lose dazwischengelegten Papieren begegnete ich Stillleben, Mode- und Raumskizzen, floralen Porträts und Tierporträts sowie Porträts meiner Mutter und ihrer Lieben. Die meisten Bilder sind mit Kohle oder Bleistift, einige wenige mit Buntstift und Wasserfarbe gemalt. Ich erkannte sofort, dass sie von jemandem stammten, der gerne zeichnete und zeichnerisches Talent besaß. Intuitiv wusste ich, dass meine Mutter die Zeichnerin der Stillleben, Skizzen und Porträts ist. Die Signaturen, die auf nahezu allen Werken vorhanden sind, bestätigten meine Annahme. Datum, z. T. auch der „Klassenname“, ergänzen die Signaturen und zeigten mir, dass meine Mutter die Zeichnungen 1946 als 16-jährige Schülerin im Kunstunterricht, möglicherweise auch in ihrer Freizeit, gefertigt hat. Ich freute mich sehr über meine „Entdeckung“, hatte ich doch eine neue Seite meiner Mutter, der mir bis dahin unbekannten jungen Inge, kennengelernt.
Ein alter Brief
Einige Zeit später widmete ich mich einer großen Brief- und Postkartensammlung, die wie das Zeichenheft zum Nachlass meiner Mutter gehört. Darunter befinden sich 42 Briefe und 39 Postkarten, die die Eltern meiner Mutter, ihr Bruder, ihre Schwester und sie selbst zwischen 1945 und 1948 an ihre Mutter/Schwiegermutter bzw. Großmutter, z. T. in Kurrent und Sütterlin, geschrieben hatten. Es sind wertvolle Zeitzeugnisse, in denen sie ihre persönliche Situation, ihre persönlichen Erfahrungen schildern, die sie in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge in einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt erlebt haben. Briefe und Karten handeln von einem Alltag, der geprägt ist von Verlust, Ausgrenzung, Mangel, Hoffnungslosigkeit, aber auch von Gemeinschaft, Hoffnung, Zuversicht, Freude und einer neugewonnenen Normalität in einer neuen Umgebung. So besuchten meine Mutter und ihre Schwester seit November 1945 wieder regelmäßig die Schule. Hellhörig wurde ich, als ich einen Brief vom 3. Februar 1946 las.
Puzzlesteine fügen sich zusammen
Das, was meine Mutter mir nie erzählt, was ich aber vermutet hatte, als ich ihr Zeichenheft in den Händen hielt, berichtete sie in diesem Brief ihrer Großmutter. Ich „hörte“, wie die 16 Jahre alte Inge ihrer Oma freudig erzählt, wie gerne sie in ihrer neuen Schule am Kunstunterricht teilnehme und wie viel Spaß ihr das Entwerfen, Skizzieren und Zeichnen mache. Die beiden unterschiedlichen Quellen, das Zeichenheft und der Brief, standen auf einmal in unmittelbarem Bezug zueinander. Gemeinsam erzählten sie mir eine kleine, für mich „große“ Geschichte über die 16-jährige Inge, die ich nie kennengelernt habe und die später meine Mutter wurde.
Ein altes Federmäppchen
Schnell holte ich das blaue Federmäppchen meiner Mutter. Das Mäppchen ist eines der wenigen persönlichen Dinge, die sie auf der Flucht aus Pommern mitgenommen hatte. Ich öffnete es und stellte mir vor, wie sie mit den darin aufbewahrten Stiften in ihr Heft gezeichnet und mit dem Federhalter Briefe geschrieben hat. So könnte es gewesen sein. 1946 in einer der beiden kargen Kammern auf einem Dachboden in Schleswig-Holstein.
Mutig neue Wege gehen
Heute, 79 Jahre später, freue ich mich über meinen neuen Kalender. Die „Impressionen aus Inges Zeichenheft“ werden mich durch das Jahr 2025 begleiten und mich Monat für Monat daran erinnern, dass es nie zu spät ist, ungelebte Talente zu leben und mutig neue Wege zu gehen. Egal, wie alt wir sind. Meine Mutter hat es mir auf das Schönste vorgelebt.
Kleine große Schätze entdecken
Wie ich bereits andeutete, sind es manchmal die kleinen, unscheinbaren Dinge, die für uns von Bedeutung sein können. Wir erkennen ihren Wert, wenn wir genau hinschauen. Und so ermuntere ich Sie, einen Blick in die alten Briefe, Tagebücher, Poesie- und Fotoalben zu werfen, die Sie von Ihren Eltern, Groß- oder Urgroßeltern übernommen haben. Ich bin mir beinahe sicher, dass Sie kleine große Schätze finden werden. Wenn Sie mögen, begleite ich Sie als Ihre Lebensarchivarin auf Ihrer Spurensuche. Sprechen Sie mich gerne an.
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