
Aus dem Sütterlin „übersetzt“ – oder wie aus alten Briefen wertvolle Zeitzeugnisse werden
Gerne nehme ich Sie mit in meinen Alltag als Lebensarchivarin. An einem konkreten Beispiel möchte ich Ihnen erzählen, was die Faszination ausmacht, private Dokumente, die in Kurrent oder Sütterlin geschrieben sind, in unsere gängige lateinische Schrift zu übertragen. Das Ergebnis fasziniert nicht nur meine Auftraggeberin, sondern auch mich, die Lebensarchivarin.
30 alte Briefe, zwei Junglehrer, eine transatlantische Freundschaft
2024 habe ich eine Sammlung vergilbter Briefe entgegengenommen. 30 Stück. Und zwei Postkarten. Zwischen 1921 und 1927 geschrieben. Von Heinrich an Axel. Von Deutschland nach Brasilien geschickt. Die beiden jungen Männer verband eine tiefe Freundschaft. Beide hatten im Frühjahr 1921 das Examen am Lehrerseminar erfolgreich abgelegt. Für beide war der Beruf des Lehrers mehr als ein Beruf, er war Berufung, quasi ihr „Traumjob“. Nach dem Ersten Weltkrieg zu Beginn der 1920er Jahre war es für „Junglehrer“ in Deutschland nicht leicht, eine Anstellung zu finden. Grund genug für Axel, nach Brasilien auszuwandern, um dort an einer deutschen Schule zu unterrichten. Heinrich blieb in Deutschland und trat erst 3 Jahre später seine erste Stelle als „Schulmeister“ an.
Und plötzlich ist der Wunsch da, mehr zu erfahren
Heinrich ist der Großvater einer Freundin, zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Krim verschollen. 80 Jahre später hat sie mich gebeten, die in altdeutscher Schrift verfassten Briefe zu „übersetzen“. Sie hat die Briefsammlung vor geraumer Zeit von ihrer verstorbenen Mutter übernommen und ungelesen aufbewahrt. Sie kann die Briefe nicht lesen, da sie weder Kurrent noch Sütterlin gelernt hat. Die Briefe sind inzwischen um die 100 Jahre alt. Wieder ist Krieg in Europa. Unwillkürlich hat meine Freundin an ihren Großvater denken müssen. Jetzt war sie bereit, zu erfahren, was Heinrich, ihr Großvater, seinem Freund Axel geschrieben hat. Zum damaligen Zeitpunkt waren Heinrich und Axel Anfang zwanzig, junge Männer. Das Leben lag vor ihnen.
Ein unsichtbares Band, das verbindet
Meine Freundin hat ihren Großvater nie kennengelernt. Bis dato hat sie wenig über ihn gehört und gewusst. Jedoch verbindet beide die Liebe zur Lehrtätigkeit, zur Pädagogik, wie sie erstaunt festgestellt hat. Ein scheinbar unsichtbares Band, das Generationen verknüpft. Auch die Mutter meiner Freundin ist in Heinrichs Fußstapfen getreten und Lehrerin geworden. Mit ganzem Leib und ganzer Seele.
Ein außergewöhnliches Kennenlernen – wenn der junge Mann der eigene Großvater ist
Vertrauensvoll habe ich Heinrichs Briefe aus dem Kurrent und dem Sütterlin „übersetzt“. Es sind einzigartige, sehr persönliche Zeugnisse. Es ist Heinrich, der darin zu Wort kommt. Authentisch. Unmittelbar. Meine Freundin hört einem jungen, vielseitig interessierten Mann zu, lauscht seinen Gedanken und lernt diesen jungen Mann, ihren Großvater, von Brief zu Brief, von „Übersetzung“ zu „Übersetzung“ ein wenig näher kennen. Er erzählt Alltägliches, von diesem und jenem, aber auch von seinen Träumen, seinen Sehnsüchten, seinen Visionen von einem erfüllten Leben. Oftmals in einer beinahe poetischen Sprache. Die Briefe sind für meine Freundin voller Bedeutung für ihre eigene Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte.
Eine Reise in die Vergangenheit
Fasziniert taucht sie in Heinrichs Aufzeichnungen ein. Obwohl individuell geprägt, sind seine Briefe einzigartige Zeitdokumente einer vergangenen Epoche. So schildert Heinrich exemplarisch, wie er, ähnlich seinen „Klassenbrüdern“, die Zeit als stellenloser „Junglehrer“ überbrückt und schließlich die ersten Jahre als „Schulmeister“ erlebt. Er schreibt auch über die Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland und deren Auswirkungen auf sein Leben und seinen Alltag. Und immer wieder setzt er sich aufmerksam mit einer sich wandelnden Gesellschaft im Deutschland der 1920er Jahre auseinander – mal aus einer eher ethisch-philosophischen, mal aus einer eher sozialkritischen Perspektive. Aber stets in seiner ganz eigenen Sprache und seinem eigenen Stil.
Die Reise geht weiter
Mit der „Übersetzung“ von Heinrichs Briefen hat sich meine Freundin ein wertvolles, ein besonderes Geschenk gemacht. Das Lesen der Briefe hat sie tief berührt. Es hallt weiter in ihr nach und wird sie weiter beschäftigen. Neue Fragen aufwerfen. Da bin ich mir beinahe sicher, denn auch ich durfte die „Briefe und Postkarten meiner unbekannten Familie“ lesen und in meine eigene Familiengeschichte eintauchen. Die Auseinandersetzung war nicht immer leicht, aber spannend, interessant, erhellend und überraschend. Ich bin unsagbar dankbar.
Vertrauen, Wertschätzung und Dankbarkeit
Doch zurück zu Heinrichs Briefen. Was für kostbare Dokumente. Nicht nur für meine Freundin. Ich bin voller Wertschätzung und Dankbarkeit darüber, dass sie mir ihre Briefsammlung anvertraut hat. Es war mir eine wahre Ehre, Heinrichs Briefe zu übersetzen und ihn somit sechs Jahre seines Lebens begleiten zu dürfen. Denn, liebe Leserin, lieber Leser, Sie wissen: Ich liebe Menschen und ihre Geschichten. Und ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat, die es wert ist, erinnert, bewahrt und verschenkt zu werden.
Alte Dokumente und neue Geschichten
Falls auch Sie eine Sammlung alter Briefe, ein altes Tagebuch, ein altes Poesiealbum oder ein altes Kochbuch besitzen, deren alte Handschrift Sie nicht lesen können, sprechen Sie mich an. Gerne übernehme ich die „Übersetzung“, damit Sie nicht nur die Schreiberin oder den Schreiber, sondern möglicherweise auch sich selbst ein wenig näher kennenlernen.
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